Zu diesem Heft
Religion und Nation: Die Gespenster der Vergangenheit sind die Gespenster der Zukunft. Der junge Marx glaubte, die Kritik der Religion habe ihr Geschäft erledigt und die in Folge der Kritik der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse sich konstituierenden Arbeiterorganisationen gaben sich internationalistisch - das eine war schlicht falsch, das andere erwies sich als bloße Ideologie. Spätestens als gewisse Kreise einer sich als radikal verstehenden linken Intelligenzia den islamistischen Um¬sturz im Iran Anfang 1979 als irgendwie antiimperialistisch und irgendwie dem Volke dienend glaubten interpretieren zu müssen, war deutlich geworden, daß die Linke nicht nur - und dies zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund hundert Jahren - ein Problem mit der sogenannten nationalen Frage, sondern auch mit der Kritik der Religion hat. Wäh¬rend der Nationalismus in seiner rechten Variante (Faschismus, Nationalsozialismus) zurecht kritisiert und bekämpft wurde, akzeptierten und verteidigten nicht libertäre Linke gemäß der Parole vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ die linken Na¬tionalismen, angefangen von der frühen Sowjetunion über die diversen Spielarten des Realsozialismus bis zu den durchweg nationalistischen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Es war nur folgerichtig, daß in diesen Kreisen die in den Anfängen weit¬gehend linke Totalitarismuskritik schlichtweg ignoriert oder gar bekämpft und somit liberalen und konservativen Interpret(inn)en überlassen wurde; diese „lost debate“ (William D. Jones) über Gemeinsamkeiten und Unterschiede totalitärer Mechanismen rechter und linker extremer Nationalismen markiert eine der großen Niederlagen der Linken. Währenddessen bahnt sich eine zweite große Niederlage an, und dies betrifft die Religion. Religion sei, so der junge Marx, „in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“. Auch sein Anti¬pode Bakunin war der Meinung, Religion sei nichts anderes als „der instinktive und leidenschaftliche Protest des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit, die Schmerzen und die Schande eines elenden Lebens“, eine „Krankheit“, der nur mit ei¬ner „sozialen Revolution“ beizukommen sei. An solcherlei Meinungen glauben von tradierten antikolonialistischen Projektionen und rassistischen Mythen vom „guten Wilden“ sich nährende Linke anknüpfen zu können, wenn sie in einem wohl für anti¬kapitalistisch gehaltenen Kurzschluß auf die abstruse Idee verfallen, ausgerechnet an¬tiwestliche islami(isti)sche Bewegungen unterstützen zu sollen. Besonders absurd wird es dann, wenn dies in einem Atemzug mit einer Kritik an der jüdischen Religion im allgemeinen, am Zionismus oder am Staat Israel geschieht. Man kann sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, als habe man sich auch in mancherlei linken Milieus die Mär vom „internationalen Judentum“ zu eigen gemacht, und zwar in dem Sinne, daß Juden in tradierter antizionistischer Manier trotz aller Verfolgungen nahegelegt wurde und wird, sich in die jeweiligen Gesellschaften zu integrieren und somit in gewisser Weise jenen Internationalismus exemplarisch vorzuleben, den das eigene Klientel um¬zusetzen sich weigerte. Als Juden jedoch aus auch diesen linken Milieus wohlbekann¬ten Gründen einen eigenen Staat zu gründen sich anschickten und schließlich auch gründeten und somit mit dieser Variante von absonderlichem Internationalismus, der in manchen Köpfen möglicherweise als nicht nationales systemtranszendierendes Zu¬kunftsmodell gesehen wurde, eine weitere linke Lebenslüge in sich zusammenbrach, fielen die nunmehr als nationalistisch gebrandmarkten Juden in diesen Milieus, denen sie gerade noch als Projektionsfläche eines positiven Internationalismus gedient hatten, auf fatale Weise in Ungnade. Das, was nicht nur manch verbeamteter und von westli¬chem Lebensstandard oft genug unhinterfragt profitierender Wohlstandsrevolutionär für die eigene Wohlbefindlichkeit in Anspruch nimmt - den eigenen Staat mit seinen umhegenden sozialen, rechtlichen und politischen Institutionen - wird dem „internati¬onalen Judentum“ abgesprochen, wobei manche sich nicht scheuen, geradezu scham¬los Bündnisse mit sogenannten Befreiungsbewegungen wie z.B. der islamistischen Hamas oder der Hisbollah einzugehen und keine Probleme damit haben, deren Bestre¬ben nach Gründung eines islamistischen Staates mit einhergehender Vernichtung des Staates Israel zu rechtfertigen und zu unterstützen. Dieser sich progressiv gebärdende, tatsächlich aber voraufklärerische Gestus einer verwirrten Linken geht konform mit einer Religion, die nicht nur keine Trennung von Religion und Politik kennt, sondern eine Gesellschaft propagiert und nach und nach auch mit militärischen und terroristi¬schen Mitteln zu erkämpfen entschlossen ist, die nicht nach säkularen, sondern nach religiösen, angeblich von Gott persönlich übermittelten Regeln funktionieren soll. Eine solche im eigentlichen Sinne politische Religion, die sich selbst als prinzipiell anti¬westlich definiert, geht in der Tat mit den normativen Regeln und Regulierungen sä¬kularer westlicher Gesellschaften - wie hinterfragbar diese auch immer sein mögen - nicht konform und gehört folgerichtig auch nicht zum Westen. Auch für Religionsfrei¬heit gilt, was für Freiheit überhaupt gilt: Freiheit ist immer Freiheit Andersdenkender. Für Religionen, die keine Religionsfreiheit kennen, gilt somit das, was für Totalitaris¬men jeglicher Art gilt: Wer Freiheit Andersdenkender aus welchen Gründen auch im¬mer nicht anerkennt, kann und darf nicht mit der Freiheit rechnen, die Freiheit An¬dersdenkender abzuschaffen. Auch der aus weltanschaulichen Gründen allzuoft zu un¬differenziertem Denken und zu Rechthaberei neigende und gerne den sogenannten „Durchblick“ für sich in Anspruch nehmende gemeine Linke sollte diesbezüglich in der Lage sein, zwischen personaler Religionsfreiheit und dem ideologischen Geflecht einer totalitären politischen Religion, die diese personale Religionsfreiheit eben nicht oder allenfalls beschränkt gewährt, zu unterscheiden. Nur eine innerreligiöse, also von Muslimen selbst beförderte theologische Revolution mit dem Ziel einer grundlegenden Trennung von Religion und Politik und einer entsprechend säkular regulierten Gesell¬schaft kann die Voraussetzungen schaffen, um das zu ächten und zu verhindern, was in Europa einen entscheidenden Wendepunkt zum säkularen Staat markierte: den religiö¬sen Bürgerkrieg, der seit geraumer Zeit in zahlreichen muslimischen oder muslimisch geprägten Staaten ungezählte Tote fordert und den auch in den Westen zu transportie¬ren terroristische Kleingruppen mit Unterstützung islamistischer Regime angetreten sind. Fatal ist das in diesem Kontext zu sehende und parallel dazu sich entwickelnde Wiedererstarken nationalistischer und religiöser Bewegungen auch in den westlichen Wohlstandsgesellschaften, wobei diese Entwicklung zweifellos auch manifeste materi¬elle Ursachen hat. Das in den Nachkriegsjahrzehnten auf der Basis einer keynesianisti-schen Wirtschaftspolitik gewachsene und zumindest partiell auch eingelöste Verspre¬chen eines wachsenden, durch die sozialen Sicherungssysteme unterfütterten Wohl¬standes hat sich seit der neoliberalen Wende nach und nach verflüchtigt. Im wieder vereinigten Deutschland sind es ausgerechnet Sozialdemokraten und Grüne im Ver¬bund u.a. auch mit den Gewerkschaften gewesen, die diese Wende zu einer „markt¬konformen Demokratie“ insbesondere mit der sogenannten Agenda 2010 und den da¬mit verbundenen sogenannten Reformen exekutiert haben. Seither hat sich die materi¬elle Lage von Millionen Menschen zunehmend verschlechtert, ohne daß irgendeine Aussicht auf einen grundlegenden Wechsel dieser von politisch Verantwortlichen be¬wußt durchgesetzten sozialen Destabilisierung auch nur in Sicht wäre. Im Gegenteil: Die allen Voraussagen zufolge weiter zunehmende materielle Verelendung reaktiviert auf der Suche nach Schuldigen, die dann traditionell bei sozial noch Schwächeren ge-sucht und gefunden werden, für überwunden geglaubte mentale Dispositionen, was sich in einem von aktuellen politischen Ereignissen verstärkten Rassismus und Natio¬nalismus niederschlägt.
Wenn weite Teile der oft genug mit obskuren nationalistischen und zum Teil religiös motivierten Befreiungsbewegungen sympathisierenden Linken ausgerechnet Juden keinen eigenen Staat gönnen wollen, dann mag das auch mit Unkenntnis der histori-schen Hintergründe, einhergehend mit einem von tradierten antijüdischen bzw. anti-semitischen Ressentiments geprägten Desinteresse, zu tun haben. Das Bild, das der gemeine deutsche Linke z.B. vom Zionismus im allgemeinen und vom linken Zionis-mus im besonderen hatte und hat, wurde weitgehend von den Päpsten der Zweiten und Dritten Internationale, Kautsky und Lenin, die beide aus unterschiedlichen Gründen jeglichen zionistischen Bestrebungen, insbesondere auch den linkszionistischen, eine Absage erteilt hatten, sowie den von deren ideologischen Schriften beeinflußten Adepten und Organisationen geprägt. Das hatte u.a. zur Folge, daß viele Texte linkszi¬onistischer Autoren nie ins Deutsche übersetzt, folglich also auch nicht wahrgenom¬men wurden, was insofern allerdings auch nichts besonderes ist, als sich im Hinblick auf die Rezeption von in anderen Weltregionen veröffentlichten Schriften und geführ¬ten Diskussionen die deutsche Linke fraktionenübergreifend schon seit jeher als reich¬lich national borniert erwiesen hat. Nachdem im letzten ARCHIV zwei Texte von Chaim Zhitlowsky abgedruckt wurden, folgt in diesem Heft mit „Die nationale Frage und die Sozialdemokratie“ ein grundlegender Text des als „Legende der jüdischen Ar¬beiterbewegung“ geltenden Wladimir Medem. Medem, 1879 im lettischen Libau ge¬boren und im Januar 1923 in New York gestorben, gilt als einer der führenden Theo¬retiker des 1897 als Interessensorganisation des jüdischen Proletariats des Zarenreichs gegründeten „Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes von Polen und Rußland“ (1901 erweitert um Litauen). Der „Bund“ setzte sich für die Anerkennung nationaler Rechte der jüdischen Bevölkerung im Rahmen eines gemeinsam mit den sonstigen sozialde-mokratischen Organisationen des Zarenreichs zu schaffenden sozialistischen Staates ein und war somit eingebunden in die insbesondere in den sozialdemokratischen Or-ganisationen Österreichs-Ungarns, des Zarenreichs und Deutschlands geführten De-batten um die sogenannte „nationale Frage“. Die dabei diskutierten Konzeptionen reichten von der Idee einer von jeglichen nationalen, kulturellen, religiösen oder sons¬tigen Zugehörigkeiten unabhängigen und nur den jeweiligen Gesetzen eines Staates bzw. einer Gesellschaft verpflichteten personalen Autonomie bis zu Vorstellungen ei¬ner auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen rekurrierenden und von national homogenen Gesellschaften geprägten Staatenwelt. In seinem Medems Text im histori¬schen Kontext verortenden Beitrag skizziert Kay Schweigmann-Greve zum einen Medems Lebensweg und dessen Konzeption einer nationalen kulturellen Autonomie, zum anderen die seinerzeit wichtigen Beiträge von Otto Bauer, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg und Lenin zur Debatte über die nationale Frage; müßig darauf hinzuwei¬sen, daß in diesen Debatten Probleme angesprochen und widersprüchlich diskutiert wurden, die bis heute unabgeschlossen sind.
Internationalismus war ein in der klassischen Arbeiterbewegung hoch gehaltener Wert, dem die großen Organisationen, die Parteien und Gewerkschaften, sich allerdings nur in den seltensten Fällen gewachsen zeigten. Egon Günther geht in seinem Beitrag über die „Cavalieri Erranti“ der Lebensgeschichte italienischer Sozialisten und Anar¬chisten nach, die es nach dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg vorzogen zu emigrieren, viele davon in die Schweiz oder auch nach Deutschland und Ungarn. In ih¬ren Gastländern waren diese Emigranten zumeist weiterhin politisch aktiv; ihre Spuren finden sich in den Kämpfen um die bairische und die ungarische Räterepublik im Frühjahr 1919, bei der Besetzung des „Vorwärts“-Gebäudes im Januar 1919 in Berlin und natürlich in der Schweiz. Internationalismus war für die Organisationen der Ar¬beiterbewegung und ihre führenden Repräsentanten nicht viel mehr als eine Ideologie, praktisch umgesetzt wurde er von einer Minderheit überzeugter Individuen.
In den sozialen Auseinandersetzungen während der kurzzeitigen revolutionären Phase nach dem Ende des Ersten Weltkrieges konnte eine aus verschiedenen Gruppierungen sich zusammensetzende nicht staatssozialistisch orientierte Linke in einigen Regionen hin und wieder eine führende Rolle spielen. Sowohl die Anarchosyndikalisten, die sich bereits vor dem Krieg von der Sozialdemokratie getrennt hatten, als auch die Links¬kommunisten, die aus der sich zunehmend an den Direktiven der „Kommunistischen Internationale“ orientierenden KPD ausgeschieden waren, konnten einige Jahre auf ei¬nen auch quantitativ nicht unbeträchtlichen Anhang zählen. Neben den zahllosen Streiks und den damit verbundenen organisatorischen Aktivitäten spielten die Diskus¬sionen über den Aufbau einer zukünftigen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Hartmut Rübner rekapituliert in seinem Beitrag „Rätesystem oder Diktatur“ die damaligen Konzeptionen insbesondere der Anarchosyndikalisten der „Freien Arbeiter Union Deutschlands“ (FAUD), aber auch der linkskommunistischen Organisationen, in deren Milieus unterschiedliche Modelle einer von unten nach oben zu organisierenden Räte¬demokratie diskutiert wurden. Praxiswirksam wurden diese Diskussionen nicht, da sich nach dem baldigen Abflauen der sozialen Auseinandersetzungen auch die Anhän¬gerschaft der Anarchosyndikalisten und Linkskommunisten verflüchtigte; man muß davon ausgehen, daß die Resonanz, auf die Anarchosyndikalisten und Linkskommu¬nisten einige Jahre lang gestoßen waren, weniger mit ihren theoretischen Überlegun¬gen, sondern mehr mit der desolaten sozialen Lage in den Nachkriegsjahren und zu¬dem mit der Enttäuschung über die defensive Politik der sozialdemokratischen Ge¬werkschaften und insbesondere der konterrevolutionären Politik der Sozialdemokratie zu tun hatte. Tatsächlich sollten sich beide Strömungen von dem schnellen Verlust ih¬res kurzfristigen Einflusses auch nicht mehr erholen. In einem zweiten Text über die den Anarchosyndikalisten seit Ausbruch der Wirtschaftskrise in den letzten Jahren der Weimarer Republik verbliebenen Handlungsmöglichkeiten kommt Hartmut Rübner zu dem ernüchternden Fazit, daß sie angesichts der wenigen tausend verbliebenen Mitglieder als Organisation im Grunde genommen handlungsunfähig geworden waren. Die FAUD war in dieser Endphase ihrer Existenz in untereinander zum Teil heftig zer-strittene Fraktionen zerfallen, was sicherlich auch mit der unterschiedlichen sozialen Zusammensetzung der Mitgliedschaft - auf der einen Seite klassische Handwerker in Kleinbetrieben, auf der anderen Seite junge Akademiker - zu tun hatte. Man hatte kei¬nen Einfluß mehr auf die sich zuspitzenden sozialen Auseinandersetzungen, sondern war mit organisationsinternen Affären und persönlichen Animositäten, mit Diskussio¬nen über eine Reorganisation der FAUD, mit Debatten über Rätekonzeptionen und schließlich mit kontrovers diskutierten Fragen des Widerstandes gegen die Nationalso¬zialisten beschäftigt. Als diesen dann tatsächlich die politische Macht übergeben wur-de, war aus der FAUD ein zwar prinzipientreuer, aber marginaler „dissidenter Grup-penzusammenhang“ geworden. Die Lage der FAUD am Ende der Weimarer Republik und den „Übergang zur Illegalität“ dokumentieren drei von Dieter Nelles und Hart¬mut Rübner vorgestellte Texte, zum einen der für den 19. Reichskongreß der FAUD im März 1932 erstellte Geschäftsbericht, zum zweiten ein Text von Gerhard Warten¬berg zur Lage in Deutschland 1933 und zum dritten ein Bericht des Sekretariats der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ über ihre Beziehungen zur FAUD in der Zeit vom Frühjahr 1933 bis zum Frühjahr 1934.
Die frühe Zustimmung zu den revolutionären Umwälzungen in Rußland seit Anfang 1917 auch durch Libertäre schlug nach der Etablierung einer Einparteienherrschaft durch die Bolschewiki schon bald in eine Kritik an deren sozialen und politischen Handlungsweisen um. Diese Kritik machte sich nicht nur an einzelnen Ereignissen wie z.B. der systematischen Unterdrückung anderer linker Gruppierungen oder der Nieder¬schlagung des Kronstädter Aufstandes vom März 1921 fest, sondern wurde auch sys¬tematisch durchdacht und insbesondere am Gegensatz zwischen einem von einer poli¬tischen Führung von oben installierten Staatssozialismus und einem von unten nach oben strukturierten und entsprechend von der Basis her zu organisierenden Rätesystem festgemacht. Gerhard Hanloser stellt in seinem Beitrag eine von Arthur Lehning in den Jahren 1929/1930 in der Zeitschrift „Die Internationale“ der FAUD veröffentlichte systematische Kritik am bolschewistischen Revolutionskonzept vor und stellt diese auch in den Zusammenhang anderer Varianten linksradikaler Bolschewismuskritik, wie sie z.B. von Karl Korsch, Anton Pannekoek, Otto Rühle oder Isaak Steinberg for¬muliert wurde. Implizit verweist der Beitrag somit auch auf das Desiderat einer syste¬matisch ausgearbeiteten Theorie eines libertären Antitotalitarismus, der nicht nur die diversen Spielarten des Faschismus und des Parteikommunismus, sondern auch die weitgehend auf bloße Formalien reduzierte bürgerliche Demokratie ins Blickfeld zu nehmen und dabei auch Berührungsängste insbesondere mit frühen antitotalitären Konzeptionen aufzugeben hätte, die oft genug in im weitesten Sinne linken Milieus formuliert wurden, bevor sie dann in der Ära des Kalten Krieges aus bekannten Grün¬den für naheliegende politische Zwecke instrumentalisiert werden konnten und damit für Linke insgesamt tabu waren.
Anarchisten, so die Ausgangsthese des Beitrages von Václav Tomek, hatten immer eine zeitnahe und den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen angepaßte Umset-zung ihrer Vision einer individuelle Freiheit und kollektive Lebensformen vereinenden Gesellschaft im Auge. Die Vorstellung davon, wie ein solches Projekt gelingen könne, hat sich folglich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte, analog zu allgemeinen gesell¬schaftlichen Entwicklungen, vielfach geändert. Tomek geht diesen Veränderungen nach, indem er die entsprechenden Überlegungen diverser Protagonisten - von Klassi¬kern des 19. Jahrhunderts (Proudhon, Bakunin, Most, Kropotkin, Thoreau) bis zu The¬oretikern und Aktivisten des frühen (Landauer, Berkman, Goldman, Rocker) und spä¬ten 20. Jahrhunderts (Paul Goodman, Colin Ward, Murray Bookchin, Hakim Bey) - vorstellt. Waren die Protagonisten des 19. Jahrhunderts durchweg mit tradierten, weit¬gehend noch feudal organisierten autoritären Gesellschaften konfrontiert, sahen sich die des frühen 20. Jahrhunderts auch von sich etablierenden unterschiedlichen staats¬sozialistischen Konzeptionen, insbesondere vom Bolschewismus herausgefordert, während die des späten 20. Jahrhunderts mit den Möglichkeiten einer zwar immer noch kapitalistischen, aber in vielerlei Hinsicht auf der Basis nicht nur „repressiver Toleranz“ offener gewordenen Gesellschaft umzugehen lernen mußten. Am Ende, so der Eindruck nach Tomeks Überblick über die sich wandelnden Konzeptionen anar¬chistischer Denker, hat sich die Perspektive grundsätzlich geändert. War ursprünglich der kritische Blick auf die ganze Gesellschaft gerichtet und die Freiheit bzw. Befrei¬ung des Individuums im Kontext dieser Gesellschaft intendiert, so scheint es mittler¬weile umgekehrt zu sein; ins Blickfeld gerät erst einmal das Individuum, von dessen ganz persönlichen Aktivitäten ausgehend die Gesellschaft netzwerkartig umstrukturiert werden soll. Die anarchistische Reaktion auf eine in ökonomischer Hinsicht zwar schon kapitalistische, in politischer Hinsicht aber noch feudal strukturierte Gesell¬schaft ist offensichtlich eine andere als die auf eine das sozial isolierte Individuum fei¬ernde neoliberale Gesellschaft.
Nach Ausbruch der russischen Revolution im Februar 1917 kam es in der Ukraine zum einen zu Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit, zum anderen zu teilweise mit diesen verflochtenen vielfältigen sozialen Auseinandersetzungen. Roman Danyluk rekonstruiert in seinem Beitrag die Aktivitäten und Konzeptionen der in diesen Ausei¬nandersetzungen engagierten und in diverse Parteien und Gruppierungen gespaltenen radikalen Linken, die sich trotz aller Versuche, die Bestrebungen nach grundlegenden sozialen Veränderungen mit dem Ziel einer politischen Selbständigkeit des Landes zu verbinden, am Ende den politisch geschickt taktierenden und wechselnde Bündnisse eingehenden Bolschewiki, die trotz aller verbaler Bekenntnisse zum Prinzip der natio¬nalen Selbständigkeit eine solche den einzelnen im russischen Zarenreich vereinten Völkern nicht zugestehen wollten, geschlagen geben mußten.
Der bolschewistische Putsch vom Oktober 1917 markiert als nationale Revolution den Beginn einer Konterrevolution, in deren Gefolge nationale Revolutionäre aller Herren Länder dem ursprünglich internationalistischen Impuls der Arbeiterbewegung endgül¬tig den Garaus machen konnten; das, was als russische Revolution in die Geschichte eingegangen ist, hat sich folglich als das Waterloo der Idee einer internationalistisch ausgerichteten Arbeiterrevolution erwiesen. Boris Souvarine (1895-1984), einer der Mitbegründer der französischen Kommunistischen Partei, war bereits 1924 wegen sei¬ner kritischen Haltung zur Entwicklung in Rußland und in der „Kommunistischen In¬ternationale“ aus der Partei ausgeschlossen worden. Charles Jacquier skizziert in sei¬nem Beitrag den Lebensweg Souvarines bis Anfang der dreißiger Jahre und dabei ins¬besondere seine zunehmend präziser und vehementer werdende Kritik am Stalinismus, die er dann in seiner 1936 erschienenen umfangreichen, erst Jahrzehnte später ins Deutsche übersetzten Biographie Stalins zusammenfaßte. Boris Souvarine hatte seine Kritik in zahlreichen, in diversen Zeitschriften erschienenen Artikeln an jeweils kon¬kreten Beispielen deutlich gemacht und nach und nach systematisiert. In einem zum zehnten Jahrestag des Oktoberputsches unter dem vielsagenden Titel „Schwarzer Ok¬tober“ veröffentlichten Artikel rekapitulierte er in grundsätzlich noch solidarischer Manier die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre in Rußland, wobei er sowohl die objektiven Schwierigkeiten der ökonomischen Umgestaltung als auch die Umgangs¬weisen, auch die der Opposition, mit diesen Problemen skizziert.
André Prudhommeaux (1902-1968) war einige Jahre lang in linkskommunistischen Milieus aktiv gewesen, eher er sich im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit dem Reichstagsbrand dem Anarchismus zuwandte. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 setzte unverzüglich eine Debatte über die da¬für Verantwortlichen ein, wobei Nationalsozialisten und Kommunisten sich gegensei¬tig die Tat vorwarfen, während Marinus van der Lubbe, der als einziger am Tatort fest-genommen worden war, immer nur als Werkzeug der jeweils anderen Partei betrachtet wurde. Die Annahme, daß der von der widerstandslosen Hinnahme der Machtübergabe an die Nationalsozialisten durch die großen Arbeiterorganisationen enttäuschte Räte¬kommunist van der Lubbe seine Tat als Fanal für einen Aufstand gegen die National¬sozialisten geplant haben könnte, durfte insbesondere im Milieu der Parteikommunis¬ten keine Rolle spielen. Charles Jacquier rekapituliert im ersten seiner beiden Bei¬träge zu Prudhommeaux dessen Engagement für van der Lubbe; ausgehend von seinen Kontakten zu holländischen Rätekommunisten veröffentlichte Prudhommeaux in eini¬gen anarchistischen Zeitschriften eine Reihe von Artikeln, in denen er auf die im Reichstagsbrandprozeß unaufgelöst bleibenden Widersprüche einging und gegen die manifeste parteikommunistische Propaganda die These vertrat, daß van der Lubbe mit seiner Tat ein sowohl für die sozialdemokratische als auch die parteikommunistische Linke peinliches politisches Fanal setzen wollte und dabei von jenen im Stich gelassen wurde, die aufzurütteln sein Anliegen gewesen war. Einige Jahre später emigrierte Prudhommeaux angesichts des drohenden Krieges in die Schweiz, da er für einen von der radikalen Linken getragenen Widerstand in Frankreich keine realistische Chance sah. Nach dem Krieg war er einige Jahre lang wieder in anarchistischen Milieus aktiv und beteiligte sich insbesondere an der von Jean-Paul Samson, der bereits 1917 in die Schweiz übergesiedelt war, seit 1953 herausgegebenen und von Charles Jacquier in seinem zweiten Text zu Prudhommeaux vorgestellten Zeitschrift „Témoins“.
Die Kritik an der nachrevolutionären Entwicklung in Rußland hatte nicht nur in Ruß-land selbst, sondern auch in den europäischen Kommunistischen Parteien zur Heraus¬bildung einer ganzen Reihe von oppositionellen Gruppierungen geführt, die zwar alle¬samt keinerlei einflußreiche politische Praxis vorweisen konnten, sich aber zu theoreti¬schen Laboratorien entwickelten, in denen neue Ideen und Konzeptionen angedacht und diskutiert wurden. Frankreich spielte für diese Gruppierungen insofern eine wich¬tige Rolle, als hier Emigranten aus Rußland, Italien und Deutschland und oppositio¬nelle einheimische Gruppierungen aufeinandertrafen. Während der Besetzung Frank¬reichs in den Jahren des Zweiten Weltkrieges trugen diese marginalen, in der Ge¬schichtsschreibung zur Arbeiterbewegung kaum erinnerten Gruppierungen mit ihren begrenzten Möglichkeiten zum Widerstand gegen die Besatzer bei. Pierre Lanneret, der selbst zu dieser Zeit in einer dieser Gruppierungen aktiv war und später nach Ka¬nada bzw. in die Vereinigten Staaten auswanderte, veröffentlichte 1985 ein hektogra¬phiertes Manuskript, in dem er die Aktivitäten dieser von ihm als „Internationalisten des ‚Dritten Lagers’“ bezeichneten Gruppierungen vorstellte und das hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegt wird.
Die nicht immer auf der Basis solidarischer Umgangsformen ausgetragenen Auseinan¬dersetzungen zwischen Marx und Bakunin im Kontext der Ersten Internationale sind in mancherlei Hinsicht paradigmatisch für unterschiedliche Konzeptionen der Durch¬setzung einer postkapitalistischen Gesellschaft. Wolfgang Eckhardt rekonstruiert diese Konflikte in der Ersten Internationale zwischen Autoritären und Anti-Autoritären am Beispiel zweier Publikationen: der von der Fraktion um Marx und Engels vorge¬legten „Allianz-Broschüre“ aus dem Jahr 1873 und dem von der schweizerischen Jura¬föderation im gleichen Jahr veröffentlichten „Jura-Mémoire“.
Im Anschluß an den im letzten ARCHIV veröffentlichten Text vom Emil Szittya über seine „Reise durch das anarchistische Spanien“ folgen in diesem Heft zwei weitere bisher unveröffentlichte Texte, die er 1939 in seinem Pariser Exil nach der Niederlage der spanischen Republik geschrieben hat. Szittya hat die Ereignisse in Spanien offen¬sichtlich mit großem Interesse und zunehmendem Entsetzen verfolgt. In seinem die beiden von ihm aus dem Nachlaß von Szittya edierten Texte kommentierenden Beitrag geht Walter Fähnders auf den Entstehungskontext der Texte und Szittyas damalige extrem prekären Lebensumstände ein.
In zwei Beiträgen stellt Egon Günther zum einen die Fotografin Traut Hajdu und zum anderen den amerikanischen Schriftsteller und politischen Aktivisten Kenneth Rexroth vor. Traut Hajdu war Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts als Fotografin für die KPD tätig. 1933 emigrierte sie über Prag nach Frankreich, dann nach Spanien, wo sie während des Bürgerkrieges politisch aktiv war, nach der Niederlage der Republik zuerst wieder nach Frankreich und schließlich An¬fang 1942 nach Mexiko; als Fotografin hat sie wohl nie mehr gearbeitet. Dem Text beigegeben sind eine Reihe von Fotos Hajdus aus den frühen dreißiger Jahren. Ken¬neth Rexroth ist, wenn überhaupt, vorwiegend als Lyriker aus dem Umkreis der „San Francisco Renaissance“ und als einer der Inspiratoren der Autoren der Beat Generation bekannt. Rexroth hat darüber hinaus zahlreiche Essays und Bücher sowie eine umfang¬reiche „Autobiographical Novel“ verfaßt, die bis auf einige Lyrikeditionen in Klein¬verlagen hierzulande allesamt nicht übersetzt sind. Rexroth war aber auch seit seiner Jugend in den zwanziger Jahren als politischer Aktivist in libertären Milieus unterwegs und hatte dabei Kontakte zu zahlreichen Personen aus diesen Milieus, u.a. auch zu den deutschen Emigranten Paul Mattick und Karl Korsch. Dem Text beigegeben sind ein Auszug aus Rexroths 1974 erschienenem Buch „Communalism“ und einige Gedichte.
Vielleicht nicht Wahrheit, aber immerhin ein treffender Verweis auf Aktuelles findet sich in einer Rede von René Voyer d’Argenson aus dem Jahr 1833, man muß nur „Aristokraten“ durch Sozialdemokraten ersetzen: „Ein tiefes Gefühl des Mitleids und der Traurigkeit ergreift mich, wenn ich das Volk sehe, wie es sich empört, um eine ge-ringfügige Vermehrung des Arbeitslohns zu fordern, und sich aller Grausamkeit der, zu seinem Nachtheile durch die Aristokraten gemachten Gesetze preisgibt…“